Wie frei ist die Wissenschaft?

Marika Przybilla-Voß vom Institut für Demokratieforschung
Marika Przybilla-Voß vom Institut für Demokratieforschung

Vor einigen Wochen kursierten zahlreiche Kommentare und Falschmeldungen zur neuen Göttinger Rechtsextremismus-Studie im Internet. Augusta hat sich mit Marika Przybilla-Voß getroffen, um über freie Wissenschaft und ein sensibles Thema zu sprechen.


Am 22. April gingen allein in Göttingen rund 2500 Personen auf die Straße, um für uneingeschränkte Wissenschaft – vor allem in Ländern wie der Türkei oder Ungarn – zu kämpfen. Wie frei ist aber Wissenschaft hierzulande, wenn eine konstruktive Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen von dubiosen Vorwürfen überschattet zu werden droht? Wissenschaftliche Kritik ist willkommen, aber was tun, wenn bloße Anschuldigungen stärker wiegen? „Man kann sich als WissenschaftlerIn nicht dagegen wehren. Konfuse Negativstimmen sind immer noch lauter als Lobstimmen oder konstruktive Kritik“ sagt Przybilla-Voß vom Göttinger Institut für Demokratieforschung. Gemeinsam mit ihren KollegInnen und unter Leitung von Prof. Dr. Franz Walter hat sie sich einem Phänomen gewidmet, das der konstruktiven Auseinandersetzung dringend bedarf. 


Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland


Im Jahr 2015 musste ein enormer Anstieg fremdenfeindlicher und rechtsextremer Übergriffe, vor allem in Ostdeutschland, festgestellt werden. Städte wie Heidenau und Freital machten durch eine Häufung gewaltsamer Auseinandersetzungen besonders auf sich aufmerksam und warfen die Frage auf, unter welchen Bedingungen Rechtsextremismus gedeihen kann – und welche Bedingungen dies verhindern. Eine Frage, die nach großer Sensibilität verlangt. „Es ist wichtig, die Vielschichtigkeit von Ursachen zu berücksichtigen. ‘Den Rechtsextremismus in Ostdeutschland‘ gibt es nicht“, erzählt Przybilla-Voß. Sie ist Teil des ForscherInnenteams, das von der Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke, beauftragt wurde, möglichen Ursachen gestiegener Fremdenfeindlichkeit auf den Grund zu gehen. Ein halbes Jahr war Zeit, „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland“ zu untersuchen. Die spürbare Vorsicht der ForscherInnen vor Pauschalisierungen zeigt: Sie selbst hätten für die Auftragsstudie wohl einen präziseren Titel gewählt. Denn erst der Untertitel „Ursachen – Hintergründe – regionale Kontextfaktoren“ verschiebt den Fokus von einer reinen Ost-West-Thematik hin zu einem differenzierten Ursachenbündel, das jeglichen Pauschalisierungen die Grundlage entzieht. Und doch blieb der Medienrummel nicht aus. Im Gegenteil: Nach der Veröffentlichung der Studie am 18. Mai brauchte es nicht lange, bis eine regelrechte Hasskampagne gegen sie geführt zu werden schien und zahlreiche Anschuldigungen im Internet kursierten. Schon im Vorjahr sei die Medienresonanz groß gewesen, so Gleicke, die auf die besondere Rechtsextremismus-Problematik in Ostdeutschland aufmerksam gemacht hatte. Vorwürfe der Stigmatisierung scheinen bei diesem Thema vorprogrammiert. Trotz der bewussten Untersuchung einzelner Regionen in ihrer jeweiligen Spezifik blieb auch das Göttinger ForscherInnenteam davon nicht verschont.


„Kritik? Gerne, aber wissenschaftlich!“


„Enttäuschend war, dass selbst als seriös geltende Medien wie die Welt Falschmeldungen aufgegriffen und haltlose Kritik verbreitet haben“, erzählt Przybilla-Voß. Insbesondere von unwissenschaftlicher Vorgehensweise und ausgedachten Interviews war die Rede. Die ForscherInnen erschienen in der öffentlichen Kritik wie unredliche JournalistInnen, die plausible Erklärungsmuster durch fiktive Geschichten stützten. Dabei habe man sich nach geltenden Standards der qualitativen Sozialforschung gerichtet, bestätigt Przybilla-Voß. Mit diesen hatten sich die KritikerInnen scheinbar wenig auseinandergesetzt: Interviews wurden nicht ausgedacht, Personen auch nicht erfunden, sondern Interviewte anonymisiert „wie es in der Forschung völlig gängig“ sei. Vielfach wurde formale Kritik genutzt, um an methodischer Kritik festzuhalten. Auch die von ZEIT Online geäußerte Kritik der unzureichenden Repräsentativität der Befunde ist hinfällig, wenn man das Ziel der qualitativen Studie kennt. „Es ging hier nicht um Einstellungsmessungen mit Fragebögen und erstrecht nicht darum, ganz Ostdeutschland zu repräsentieren, sondern um die Aufdeckung von Zusammenhängen durch dezidierte Medienanalyse, Auswertung von Strukturdaten, ethnographische Beobachtungen und 40 Einzel- und Fokusgruppeninterviews.“ Dass hier einige Erklärungsmuster dominant sind, ist nicht mit selektiver Meinungsäußerung, sondern mit dem Ziel einer solchen Forschung zu begründen. So wurden Kontextfaktoren identifiziert, die in einigen Regionen Ostdeutschlands vorherrschen und zugleich Ansätze dafür bieten, wie man Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit auf lokaler Ebene entgegenwirken kann.


Ostdeutschland ist nicht das Problem


Aber Ostdeutschland hat ein Problem mit Rechtsextremismus. Und in Ostdeutschland kann es gelöst werden, heißt es im Ausblick der Studie. Spezifische Sozialisations- und Wende-Erfahrungen der Ostdeutschen sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sagt Michael Lühmann, ebenfalls am Projekt beteiligt, in einer Pressekonferenz vom 18. Mai. Wichtig sei laut Iris Gleicke auch, dass die Mehrheit der Ostdeutschen weder fremdenfeindlich noch rechtsextrem sei. Gemeinsame Erfahrungen determinieren die Menschen keinesfalls, bilden aber Ausgangspunkte zur Erklärung, warum gerade Ostdeutschland ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit hat. Eine wichtige Rolle spiele vor allem ein romantisierendes Bild von der DDR-Vergangenheit, das die Wahrnehmung aktueller Geschehnisse präge, so Lühmann. Die starken Einbindungen der Menschen zu DDR-Zeiten seien zudem nach der Wende bewusst aufgelöst und durch eine starke Distanzierung zur Zivilgesellschaft ersetzt worden. Nicht eingehaltene Versprechungen im Zuge der Transformation führte die zunehmend isolierten Individuen zu einer Suche nach Schuldigen. All das mag zum Verständnis des Problems beitragen. Doch warum fallen nun einzelne Regionen mit Gewaltdelikten auf, wohingegen andere kaum damit zu kämpfen haben?


Wie ist Rechtsextremismus entgegenzuwirken?

 


Die Lösung sehen die WissenschaftlerInnen im Lokalen, vor allem in den unterschiedlichen Reaktionen politischer und zivilgesellschaftlicher Akteure auf Rechtsextreme und ihre „GegnerInnen“. Wo eine periphere geographische Lage, ein Mangel an kulturellem Leben, sozioökonomische Probleme mit einer defensiven politischen Kultur gepaart sind, kann Rechtsextremismus besonders leicht gedeihen. Zwar verfolgte die Göttinger Rechtsextremismus-Studie in erster Linie den Anspruch, Ursachen mit wissenschaftlichen Methoden aufzudecken, doch kann sie allemal als Appell gelesen werden, Maßnahmen zu ergreifen, eine neue Erinnerungskultur zu schaffen, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken und vor allem laut zu werden gegen Rechtsextremismus. „Wir haben natürlich auch viel Zuspruch bekommen“ ergänzt Przybilla-Voß und weckt damit Optimismus. Denn darin, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit überwunden werden müssen, sollte Einigkeit bestehen und so dürfen unwissenschaftliche Kritik und brisante Schlagzeilen die konstruktive Auseinandersetzung mit den Befunden nicht behindern.
Nur so kann auf Ursachenerforschung die Ursachenbekämpfung folgen.
Nur so hat Wissenschaft gesellschaftlichen Nutzen.

Luisa Rolfes